schöne junge Frau, die ihre Freizeit auf einer weißen Hängematte im Hinterhof genießt
in

Entschleunigung

Zuletzt aktualisiert am 19. Oktober 2022 von Marianne

Ich saß auf einem Teppich stundenlang und beobachtete einen 13 Monate alten Knirps bei seinen ersten Schritten. Er ist der Enkel meiner Freundin, sie hatte aufgeregt angerufen: „Komm schnell, sonst verpasst du was!“ Der Knirps heißt Philipp, und es gibt nichts, worum ich sie im Moment mehr beneide.

Er juchzte vor Glück, plumpste hin, stemmte sich wieder hoch, und wir saßen einfach nur da und feuerten ihn an. Meine Freundin kochte Kaffee, ihr Mann holte Kuchen, ich blieb sitzen, weil es keinen Platz gab, wo ich in diesem Moment lieber gewesen wäre. Kleine Kinder können instinktiv etwas, das uns Erwachsenen leider völlig abhanden gekommen ist. Und wir nur mühsam wieder hinkriegen. Etwas eigentlich ganz Einfaches und gleichzeitig sehr Schwieriges: einfach nur da sein, mit allen Sinnen konzentriert. Den Moment genießen, durch nichts abgelenkt. Nichts stört, nur der Augenblick zählt. Totale Entschleunigung.

Ganzkörperglück.

Wann haben wir zuletzt auf einer Sommerwiese gelegen und in die Wolken geguckt? Am Strand Muscheln gesammelt? Den Tag verbummelt und uns nicht schuldig gefühlt? „Smell the roses“, sagen die Amerikaner, bleib stehen, hol tief Luft, riech die Rosen. Und lass vor allem dein Smartphone zu Hause. Aber obwohl wir wissen, dass alles, was wir in Ruhe tun, erstens mehr Spaß macht und zweitens besser gelingt als das, was wir hektisch abhaken, hetzen wir durch unseren Alltag, treten aufs Gas, das Leben rauscht vorbei und wir verpassen die schönsten Augenblicke.

Es liegt ein alberner Stolz in dem Satz: „Ich hab so viel um die Ohren, ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.“ Albern, weil er eher nach falschen Prioritäten und schlechter Planung klingt als nach Wichtigkeit. Aber der Gegensatz „Kein Problem, ich hab Zeit“ geht uns nur schwer über die Lippen, lieber sagen wir: „Ich check mal meinen Terminkalender.“ Keine Zeit haben ist cool. Multitasking noch cooler. Selbst Rentner, von denen früher nicht viel mehr erwartet wurde als gelegentliche Enkelbetreuung, sind superstolz darauf, dass sie superbeschäftigt sind. Bis auf die alte Dame mit Rollator, die an der Supermarktkasse „Gehen Sie ruhig vor, ich habe Zeit“ zu mir sagte. Ich war ein bisschen beschämt, wirkte ich so gestresst auf sie?
Direkt nach meinem Nachmittag auf dem Krümelteppich fuhr ich zum Arzt und steckte im frühen Feierabendverkehr. Baustellen. Genervtes Gehupe.

Keiner ließ den anderen vor oder rein. Nur ich, weil es sowieso nicht weiterging. An einer roten Ampel schreckte ich zusammen, weil jemand meine Tür aufriss. Ein Mann, hochrot im Gesicht, schrie mich an: „Wenn Sie nicht sofort mit Ihren Sozialarbeiterallüren aufhören, raste ich aus! Ich habe wichtige Termine!“

Genau darum geht es. Um Termine und unseren Irrglauben, dass unsere die wichtigsten sind. Aber wer von uns ist Gehirnchirurg, auf wen wartet ein todkranker Mensch, den wir retten müssen? Ich hatte kürzlich mein Handy verlegt, Akku war leer, also war es nicht auffindbar. Alle Termine gespeichert, es waren vermeintlich viele, ich verbrachte den Tag in fieberhafter Unruhe. Was verpasste ich? Welchen Schaden richtete ich damit im Universum an? Abends fand ich mein Handy wieder, ich hatte fünf Termine versäumt, der wichtigste war die Zahnreinigung.
Ist es nicht tröstlich, dass vieles in unserem Leben gar nicht so wichtig ist? Selbst ein verpasster Flieger oder eine zu spät eingereichte Steuererklärung sind nicht das Ende der Welt. Mein ehemaliger Kollege Harald Jones, der den Bestseller „Ganz entspannt im Hier und Heute“ schrieb, sagte mir einmal, dass Allerschwerste für unser Gehirn wäre, an absolut nichts zu denken. In der Ruhe liegt die Kraft – wie wahr diese alte Weisheit ist, erlebte ich hautnah, als ich nach einer Fuß-OP in die vorübergehende Ruheposition gezwungen wurde.
Die mir als Hektikerin, die im Stechschritt durch die Wohnung eilt (sagt meine Tochter), sehr schwerfällt. Alles ging langsamer, aber das meiste ging. Und machte sogar unerwartet viel Spaß. Backen zum Beispiel. In beschleunigten Zeiten reichte mir die Backmischung von Dr. Oetker, notgedrungen entschleunigt traute ich mich an eine Himbeerbaisertorte. Ich las „Vom Winde verweht“ wieder, das Lieblingsbuch meiner Jugend. Ich führte lange Telefonate, statt kurze WhatsApps zu texten. An einem kalten Wintermorgen traute ich mich zum ersten Mal wieder auf die Straße. In einer Häuserschlucht ging gerade die Sonne auf – ein Riesenball, der in allen Rosa-Gelb-Orangetönen leuchtete. Ich blieb stehen und staunte. Sooo schön!

Graugesichtige Menschen hasteten an mir vorbei, so wie ich früher um diese Zeit in mein Büro gehastet war. Und keine Ahnung hatte, dass das Leben eine Wundertüte ist. Du musst nur langsam genug gehen, um immer in der Sonne zu bleiben, sagt der kleine Prinz. Oder auf einem Teppich.

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